Gestern sah ich zum ersten Mal Mozarts Don Giovanni.
Seine Erfolge, von Leporello dokumentiert, liegen
lange zurück. Schon die Tatsache, dass Giovanni sich einen Diener
hält, der seine Erfolge bei den Frauen dokumentieren muss, lässt
den Rückschluss auf eine selbstunsichere Persönlichkeit zu, der es
nicht auf den Genuss, sondern viel mehr auf das Prahlen mit dem Genuss
ankommt. Und nun, welcher Abstieg und Abbau der Persönlichkeit! Mit
Donna Anna verhebt er sich ein erstes Mal, er kann die Lage nicht
mehr richtig einschätzen, kommt nicht ans gewünschte Ziel und lässt
sich auf einen Streit mit Annas Vater ein, der mit einem Mord endet.
Gleich darauf flirtet er mit Donna Elvira, seiner
eigenen Ex-Frau, ohne sie zunächst zu erkennen. Dies wirft ein
grelles Licht auf den weit fortgeschrittenen Zerfall seiner
Persönlichkeit, der es noch nie auf Beziehung, sondern immer nur auf
Suchtbefriedigung angekommen war.
Und mit Zerlina handelt er sich den dritten
Misserfolg in Serie ein, wobei das Personal der ersten beiden
genannten Misserfolge Entscheidendes dazu beiträgt, den dritten
versuchten Missbrauch zu verhindern.
Noch pflastern keine weiteren Leichen seinen Weg,
wohl aber Streitereien, Betrügereien, Schlägereien und
menschenverachtende Lästereien, die zwar in der schönen
italienischen Sprache nicht so schlimm klingen, es aber an
blasphemischem Gehalt nicht fehlen lassen, wie das kostenlose
Programmheft glaubwürdig versichert.
Kurz darauf erblickt Giovannis zerrütteter Geist
in einer nächtlichen Friedhofsszene - was tut ein halbwegs normaler
Mensch nachts auf einem Friedhof? - in einer steinernen Statue den
just von ihm Ermordeten. Dass dort in der Kürze der Zeit kein reales
steinernes Denkmal errichtet worden sein kann, es sich also um ein
Wahngebilde seitens des Giovanni handeln muss, versteht sich. Aber
auch dieser letzte ernste Hinweis, der ihm zur Mahnung hätte dienen
können, sich in eine Psychiatrie einweisen zu lassen oder sich einer
Entziehungskur für seine Sexsucht, zumindest aber einer
psychosomatischen Reha-Maßnahme zwecks Erholung seines zerfetzten
Nervensystems zu unterziehen, dringt nicht in Giovannis Geist ein; er
fährt fort mit seinen Lästereien und Pöbeleien. Er lädt die von
ihm im Delirium erblickte Statue ein, dass sie ihn zu Hause zu einem
Gastmahl besuche.
Diese Einladung erweist sich als äußerst
dysfunktionaler Umgang mit einem Wahngebilde. Giovanni erblickt
nämlich die Halluzination bei seinem Gastmahl tatsächlich, er hört
ihre donnernden Schläge an der Eingangstür, und unter ihrem Anblick
und ihren strafenden Worten - der Stimme seines eigenen Gewissens -
bricht er vollends zusammen. Die ganze Schlussszene wird minutenlang
untermalt von grellen unversöhnlichen Akkorden, wie ich sie einem
Mozart nie und nimmer zugetraut hätte.
Die Musik endet
mit kurzen heftigen Fanfarenstößen in Dur, womit der Komponist
zweifellos den Übergang von der psychischen Zerstörung einer Person
zum Beginn des Jüngsten Gerichts hat markieren wollen.
Die Maske ging zu Boden. Im Fallen schlitzte sie mir ein Hosenbein auf, zertrümmerte mir die Kniescheibe, zerquetschte meine große Zehe und durchschlug den Fußboden meiner Wohnung.